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03. Jun. 2016

Meine Meinung – Gewaltverbrechen an Kindern I

Tom und Sonja

Verbrechen wie die brutale Ermordung von Tom (11) und Sonja (9) im März/April 2003 gehen mir (wie wahrscheinlich uns allen) an die Substanz. Was ist das für eine Welt, in der Kinder nicht mehr draußen spielen können, weil man Angst darum haben muss, dass irgend ein Schwein sie klaut und umbringt?

Für das Leid der Eltern und aller anderen Leute, die die Kinder gekannt und geliebt haben, gibt es kein Maß. Nicht nur, dass sie beide Kinder verloren haben, die sie hatten – wenn es wenigstens ein Unfall gewesen wäre, aber so eine sinnlose Gewalttat – es ist einfach nicht zu fassen.

Was sollen wir tun? Wenn wir unsere Kinder nur noch in „Schutzhaft“ aufwachsen lassen, nehmen wir ihnen jede Entfaltungsmöglichkeit. Kinder brauchen nun mal viel Freiraum und Auslauf. Daher müssen wir solche Taten verhindern. Sehr schnell werden daher Rufe nach härtesten Strafen laut.

Das ist sehr gut zu verstehen. Wenn ich es hier trotzdem hinterfrage, dann geht es mir keinesfalls darum, das Verbrechen zu verharmlosen. Ich selbst bin mit vielen Kindern befreundet, und es würde mir das Herz herumdrehen, wenn einem meiner kleinen Freunde so etwas passieren würde.

Wer sich an Kindern vergreift, ist ein Schwein – daran möchte ich keinen Zweifel lassen. Aber irgendwann ist dieser Jemand doch zum Schwein geworden. Ich glaube nicht, dass er schon als Schwein geboren wurde. Was um Himmels willen macht einen Menschen zur kindermordenden Bestie?

Ich bin weder Kriminologe noch Psychologe, habe also eigentlich keine Ahnung. Aber ich mache mir nun mal meine Gedanken dazu.

Warum werden Kinder ermordet?

Alle denkbaren Möglichkeiten sind unvernünftig. Es kann keinen vernünftigen Grund geben für einen brutalen Mord an zwei Kindern. Natürlich lässt sich in aller Breite spekulieren, was in diesem Fall (und in allen anderen auch) den (oder die) Täter wohl dazu gebracht hat, sich an den Kindern zu vergreifen. Aber ich muss meine Phantasie gar nicht besonders anstrengen, um mir einige teils abstruse Motive vorzustellen:

Ich weiß es nicht, und es kommt mir auch nicht auf diesen konkreten Fall an. Für prinzipiell denkbar halte ich alle Möglichkeiten. Und alle haben sie eines gemeinsam: Sie treffen zunächst einmal die Falschen – denn die Kinder haben damit nichts zu tun und können nichts dafür.

Gegen die meisten dieser denkbaren Möglichkeiten sind die meist geforderten Strafverschärfungen machtlos: Wer nichts zu verlieren hat, fürchtet keine Strafe. Für ihn kann es nur besser werden. Darüber hinaus kann eine harte Strafe zwar abschreckend wirken, aber je nach Geisteszustand des Täters auch eine Trotzreaktion hervorrufen – z.B. indem sie den Täter in seinem Wahn bestärkt, die Gesellschaft wolle ihn mit allen Mitteln treten.

Können wir wirklich nichts dafür?

Dafür, dass jemand herumläuft und Kinder ermordet, können alle anderen natürlich direkt nichts. Verantwortlich für die Tat ist der, der sie tut.

Aber einerseits können andere ihn dazu anstacheln oder treiben (wenn auch nur „im Spaß“), und andererseits kann eine Gesellschaft oder eine Kultur solche Taten, oder das Denken, das zu ihnen führt, entweder fördern oder unterbinden.

Wenn ich mal unterstelle, dass Gewaltverbrechen an Kindern zumindest zu einem Teil von Menschen begangen werden, die sich von der Gesellschaft getreten und ausgeschlossen fühlen, dann fallen mir durchaus einige Dinge auf, die uns alle betreffen.

Unsere Leistungs- und Spaßgesellschaft produziert notgedrungen Gewinner und Verlierer. Das wäre an sich noch nicht so tragisch, wenn da nicht auch die Tendenz wäre, einen Menschen nach seinem „gesellschaftlichen Marktwert“ zu bewerten. Wer verliert, wenig bringt, nichts taugt, keinen Spaß macht, ist abgestempelt und bekommt das auch zu spüren. Viele Tropfen, an sich harmlos, können dann das Fass zum Überlaufen, sprich: den Menschen zum Ausrasten bringen[1].

Es gibt dann genug Leute, die meinen, dass sie selbst zu Gewinnern werden, indem sie andere zu Verlierern machen[2]. Das geht bei den Schwachen natürlich am einfachsten. Ohne Rücksicht auf seelische Verletzungen übelster Art wird dann intrigiert und gemobbt – jeder kennt das.

Der Schluss, dass charakterlich schwächere Menschen nur begrenzt damit umgehen können, liegt zwar nahe, wird aber nur von wenigen gezogen. Freundlichkeit und Achtung im Umgang miteinander, gerade bei Konfrontationen, nehmen ab, die Gesellschaft wird kälter, jeder denkt nur noch an sich und keiner mehr ans Ganze. Und alle, die darauf angewiesen sind, dass andere auch an sie denken, fallen hinten runter.

Wer will da bitteschön ausschließen, dass alle paar Jahre mal ein auf diese Weise seelisch geschändeter Mensch so sehr ausflippt, dass er sich an Kindern vergreift – sei es, um seinen Frust abzureagieren, oder um sich an der Gesellschaft zu rächen? In dem Fall trägt dieser Mensch zwar weiterhin die Schuld an der Tat, aber die übrige Gesellschaft hat dann keinen Grund mehr, zu sagen: „Der ist böse, und wir sind gut“.

Ich glaube nicht, dass ein Mensch, dem es gut geht, Kinder umbringt. (Höchstens, wenn es ihm zu gut geht.)

Und hier wird der Gedankengang unangenehm, denn das betrifft nun auch mein persönliches Verhalten im Alltag. Wie gehe ich mit Schwächeren um? Wie verhalte ich mich, wenn Menschen gedemütigt werden? Was trage ich dazu bei, dass die Menschen in meinem Umfeld sich wohl fühlen? Das kostet oft nicht einmal Geld – es kostet nur Zeit und Zuwendung. Die simple Weisheit „Seid nett zueinander“ würde die Gewaltbereitschaft und den Egoismus in unserer Gesellschaft wohl spürbar senken. Wenn das keine Investition in die Zukunft ist!

Jedes Kind ist unendlich wertvoll!

Was gelten Kinder in unserer Gesellschaft? Ich meine, sobald sie nicht mehr süß und vorzeigbar sind, sondern Anstrengung kosten? Mit Spielplätzen wird gegeizt, Rasen betreten verboten, an Familien mit Kindern wird nicht vermietet, ein Spielplatz in der Nähe einer Wohnung zählt als Wertminderung ... die Liste ließe sich fortsetzen [3].

Darüber, dass es Kindern bei uns teilweise schon schwer fällt, ein gesundes Selbstwertgefühl zu entwickeln, habe ich schon im Artikel „Amok laufende Schüler“ geschrieben und möchte das hier nicht wiederholen. Mir geht es jetzt mehr um die Gesinnung in den erwachsenen Köpfen: Wer Kinder grundsätzlich als störend empfindet oder gar eine Welt ohne Kinder schöner fände, weil Kinder ja nur laut sind und Dreck machen, der befindet sich meiner Meinung bereits nach auf einem kritischen Denkweg. Ich halte es nämlich durchaus für möglich, dass im Kopf eines solchen Verlierers, der sich an der Gesellschaft rächen will, der Gedanke herumgeistert, um ein Kind mehr oder weniger sei es ja nicht so schade.

Mir wird schon übel, wenn ich einen solchen Satz in die Tastatur tippe. Mir sind Kinder unendlich viel wert, und in meinem Umgang mit Kindern bestätigt sich dieser Wert immer wieder. Kinder geben Zuwendung zurück, sie zahlen die Investition mit Zinsen zurück.

Ich möchte damit niemandem etwas vorwerfen, wirklich nicht. Es gibt Leute, die mit Kindern einfach nicht klar kommen. Daran ist nichts Schlechtes, das meine ich nicht; nicht jeder kann und muss ein Kinderfreund sein. Es geht mir um die grundsätzliche Denke und darum, mich selbst zu überprüfen: Was tue ich dafür, dass Kindern die Stelle in unserer Gesellschaft zukommt, die ihnen zusteht – nämlich die erste, weil sie unsere Zukunft sind?

„Kinderfreundlich“ heißt „freundlich zu Kindern“ –
„menschenfreundlich“ heißt „freundlich zu Menschen“

So sehr die Forderung nach mehr Kinderfreundlichkeit die Gesetzgebung und die Kommunalpolitik betrifft, so sehr betrifft es auch jeden einzelnen von uns. Denn letztendlich sind es die Gedanken in uns, die die Gesellschaft prägen. Prioritäten für Kinder können nicht per Gesetz verordnet werden, sie fangen beim Volk an. Bei mir und dir also.

Eine kinder- und menschenfreundliche Gesellschaft ist eine Gesellschaft, die den Menschen nicht nach seiner Leistung oder seinen Fähigkeiten bewertet, sondern seinen individuellen Wert als Mensch achtet. Das ist bestimmt immer noch nicht der Himmel auf Erden, aber für solche Verbrechen wie den Mord an Tom und Sonja gibt es dort meiner Meinung nach einfach keinen Nährboden.

Fußnoten

[1] Lese-Tipp: John B. Priestley, „An Inspector Calls“ („Ein Inspektor kommt“)
[2] Lese-Tipp: Paul Watzlawick, „Vom Schlechten des Guten“
[3] Lese-Tipp: Ekkehard von Braunmühl, „Zeit für Kinder“

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