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03. Jun. 2016

Meine Meinung – Gewaltverbrechen an Kindern II

JakobEnde September 2002

Jakob von Metzler, elf Jahre alt, wird von Magnus Gäfgen, einem Freund der Familie, unter einem Vorwand in dessen Wohnung eingeladen. Gäfgens Ziel: den Jungen entführen, um Geld zu erpressen, das er für seinen ausschweifenden Lebensstil dringend brauchte. Wenige Tage später wird die Leiche des Jungen geborgen und Gäfgen unter dringendem Tatverdacht verhaftet.

GäfgenDas Geständnis, April 2003

Er habe Jakob nur ruhig stellen wollen, sagt der Täter unter Tränen.

Er habe den Jungen niemals töten wollen und würde jetzt sogar sein eigenes Leben geben, wenn Jakob dadurch wieder lebendig würde.

Bericht bei Spiegel-Online

Das Dilemma

Das glaube ich Gäfgen sogar. Dass er Jakob nicht töten wollte. Dass es ihm fürchterlich leid tut, was geschehen ist. Ja, das glaube ich ihm.

Offenbar hat Gäfgen völlig die Nerven verloren, als der Junge sich außerplanmäßig gewehrt hat.

Ob nun schwerer Totschlag oder Mord vorliegt, mögen die Juristen entscheiden. Für Jakobs Eltern und Freunde macht das keinen Unterschied aus, Jakob ist tot – für nichts und wieder nichts.

Mein Vorwurf an den Täter ist ein anderer. Gäfgen enthüllte seinen ursprünglichen Plan. Er möchte sich damit entlasten, aber in meinen Augen ist dieses Geständnis in mancher Hinsicht fast fürchterlicher als alles, was ich mir in der Phantasie bislang über diesen Fall ausgemalt habe.

Gäfgens Vorhaben war mehr als kinderfeindlich. Es war kinderverachtend. In seinen Augen scheint der kleine Jakob ein gefühlloser Gegenstand gewesen zu sein, den er ausleihen, benutzen und mit ein paar Schrammen gegen Lösegeld zurückgeben konnte.

Der Überfall

Jakob folgte Gäfgen in dessen Wohnung, wo der Mann über den Kleinen herfiel und ihn zu fesseln begann. Zunächst scheint Jakob das noch für ein Spiel gehalten zu haben, aber als er merkte, dass es Ernst war, schrie er und wehrte sich heftig, worauf Gäfgen ihm sagte, er solle ruhig sein, dann passiere ihm nichts.

Kinderverachtung 1: „Dir passiert nichts“

Diese Behauptung ist an dieser Stelle blanker Hohn – nach allem, was dem Jungen schon passiert ist:

Jakob wurde von einem Menschen, dem er vertraute, verraten, überfallen und gefesselt. Er ist diesem Menschen nun hilflos ausgeliefert, ohne zu wissen, was der mit ihm noch alles vor hat. Wen wundert’s, dass er sich heftig gewehrt hat, als er fühlte, dass es ihm ans Leben gehen könnte?

Was für ein traumatisches Erlebnis muss das für Jakob gewesen sein – durchaus geeignet, sein Grundvertrauen in das Leben und die Menschheit in Frage zu stellen. Selbst wenn sonst wirklich „nichts passiert“ wäre: Wem würde Jakob jemals wieder vertrauen können? Wie oft würde er nachts davon träumen? Wie oft von Angst und Schrecken verfolgt werden, nur aufgrund dieses Erlebnisses von Vertrauensmissbrauch?

Wer an dieser Stelle sagt, es „passiere nichts“, tritt Gefühle und Seele des Kindes mit Füßen. Anders kann ich es nicht ausdrücken. Als wäre nicht schon genug passiert!

Der Plan

Sobald Gäfgen das Lösegeld erhalten hatte, wollte er Jakob so betrunken machen, dass dieser einen Filmriss erlitte und sich an nichts erinnern könne, und ihn dann aussetzen, damit er wieder nach Hause fände.

Kinderverachtung 2: Abschalten

Das scheint zunächst einmal relativ human gedacht – immerhin war also fest geplant, Jakob nicht am Ende doch noch umzubringen.

Doch es ist nicht human, es ist kinderverachtend und geradezu teuflisch, wenn man sich die Wirkung einer Alkoholvergiftung – denn darum geht es – auf den kindlichen Organismus klar macht.

Ich habe mich bei dieser Gelegenheit darüber informiert. Ergebnis: Bei kleinen Kindern gibt es keinen Rauschzustand. Sie fallen bei entsprechendem Alkoholpegel direkt in die Bewusstlosigkeit (und müssen dann sofort zum Notarzt). Das heißt aber für Gäfgens Plan: Die Grenze zwischen Bewusstlosigkeit mit Filmriss und tödlicher Alkoholvergiftung ist ein sehr schmaler Grat.

Die tödliche Dosis für Schulkinder liegt bei 3 Gramm Alkohol pro kg Körpergewicht, für einen schmächtigen Elfjährigen von 30 kg sind das also 90 Gramm bzw. 114 ml reinen Ethanols. Nehmen wir an, Gäfgen hätte für seine „Maßnahme“ 54%igen Rum verwendet. Dann wären 210 ml des Getränks für Jakob tödlich gewesen. In der Flasche ist mehr als die dreifache Menge. Ob Gäfgen die schmale Grenze eingehalten hätte?

Und selbst wenn Jakob die Vergiftung überlebt hätte, wären Hirn und Nerven schwer geschädigt worden. Gäfgen scheint das völlig egal gewesen zu sein!

Und das ist genau das, was ich Kinderverachtung nenne: Kinder als Gegenstände behandeln. Den Jungen bei Bedarf abschalten, wie man einen Fernseher abschaltet, um ihn später wieder einschalten zu können. Auf seinen Gefühlen herumtrampeln. Ihn benutzen, um Druck auf andere Menschen auszuüben, ohne Rücksicht darauf, was man dabei eigentlich auf in selbst ausübt.

Kinder als Gegenstände behandeln heißt: die Tatsache missachten oder ignorieren, dass Kinder eigene Menschen mit eigenen Wünschen, eigenen Vorstellungen, eigenen Bedürfnissen, eigenen Träumen und eigenen Empfindungen sind. Und mit einer eigenen Privatsphäre, in die ohne Erlaubnis einzudringen niemand auch nur das geringste Recht hat.

Chancen

Wenn Gäfgen einsieht, wie falsch sein grundsätzliches Denken ist, wenn er einsieht, dass andere Menschen Menschen sind, mit Persönlichkeitsrechten, die es zu achten gilt, dann sehe ich Chancen für ihn und würde ihm auch persönlich helfen, diese Chancen nach seiner Entlassung für ein neues Leben zu nutzen.

Kinderfeindlichkeit im Allgemeinen

Was hier geschehen ist, ist ein fürchterliches Verbrechen, aber aus einem anderen Blickwinkel doch nur ein Extremfall dessen, was in unserer Gesellschaft vielfach legal geschieht.

Denn auch in Familien werden Kinder viel zu oft als Gegenstände behandelt, aus unterschiedlichsten Gründen:

Ich will die Aufzählung nicht in die Länge ziehen. Aber in unserer Gesellschaft gibt es genug legale Kinderfeindlichkeiten, die ich nicht vergessen möchte, wenn ich mich zu den illegalen äußere.

Jeder von uns ist gefragt, wie er die Welt in seinem Umfeld so gestalten kann, dass sich Kinder darin wohlfühlen können. Dass sie das Gefühl haben, Personen zu sein und als Menschen geachtet zu werden. Dass sie als Mitglieder der Gesellschaft ernst genommen werden, dass man ihnen zuhört und auf sie Rücksicht nimmt.

Dass man ihnen – kurz gesagt – die Gewissheit vermittelt, dass sie wichtig sind.

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