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03. Jun. 2016

Tom und Sonja †

Das hier ist keine wohldurchdachte Stellungnahme, keine vollständige Abhandlung. Das hier ist nur mal „laut gedacht“ – ich muss einfach äußern, was in mir angesichts so furchtbarer Geschichten (Geschichte kommt von geschehen!) vorgeht ...

6. November 2003: Prozessbeginn

Die Anklageschrift liest sich wie ein Schundroman der übelsten Sorte: Zwei Männer machen bewusst und planvoll Jagd auf Kinder, die sie zu ihrem Vergnügen quälen wollen. Zwei Geschwister gehen ihnen schließlich ins Netz. Da sie nur an Mädchen interessiert sind, wird der Junge, anders kann ich es nicht nennen, als unnützer „Beifang“ kurz darauf „entsorgt“ (kann man sich einen sinnloseren Tod vorstellen? Oder einen kaltblütigeren Mord?), während seine Schwester noch stundenlang zum Spaß ihrer Peiniger gequält und gefoltert wird ... und spätestens hier krampfen sich mir beim Tippen die Finger zusammen: Das ist Ende März tatsächlich in einer deutschen Stadt passiert.

Dass unter uns Menschen leben, die so etwas Kindern antun, die offenbar jedes bisschen Mitgefühl in sich abgetötet haben, übersteigt schlicht und einfach mein Fassungsvermögen.

Sind es Menschen?

BILD besteht darauf, dass es zwei „Bestien“ sind. Ich kann verstehen, was damit gemeint ist, aber ich bestehe meinerseits darauf, dass es sich um Menschen handelt – und zwar deshalb, weil die Täter sich verdammt nochmal für ihre Taten zu verantworten haben!

Wenn ein Mensch Kinder hasst, ist das nicht schön, aber auch nicht schlimm. Schlimm ist es, wenn er seinen Hass nicht im Griff hat. Wenn er ihn an Kindern auslebt, die ihm nichts getan haben und auch nie etwas tun wollten. Kann ein erwachsener Mensch wirklich so sehr vergessen, dass er auch mal ein Kind war?

Und wie in aller Welt kann man Kinder so sehr hassen? Ich kenne Leute, die keine Kinder mögen. Ich kann das verstehen. Aber niemand von ihnen würde deshalb ein Kind angreifen!

Einem Tiger, der einen Menschen reißt, kann man die Tat nicht anlasten, weil er nur seinen Trieben folgt. Es gibt bei Tieren keinen Schuldbegriff. Ein Mensch aber ist für seine Taten verantwortlich. Gerade dass es zwei Menschen sind, macht das Geschehene ja so fürchterlich. Ja, es sind Menschen, und als Menschen sollen sie ihren Taten ins Gesicht sehen – jetzt sollen sie Menschen sein, wie sie noch nie Menschen waren!

Eiskalt

Ob sie zum Mensch-Sein überhaupt fähig sind? Kurz nach der Beerdigung von Tom und Sonja wollten sich die beiden eigentlich wieder ein Kind fangen, um es zu quälen, wie sie heute (7.11.) aussagten. Sie hatten nur „kein Glück“.

Meine Denkmaschine setzt da einfach aus. Eben noch auf der Beerdigung ihrer letzten Opfer gewesen, dabei miterlebt, welches unendliche Leid sie über so viele Menschen gebracht haben – und gleich darauf wieder unterwegs, um das nächste Opfer zu suchen! Ist es denn die Möglichkeit, dass Menschen derart gefühlskalt sein können?

Offenbar fehlt hier auch die kleinste Spur von Mit-Fühlen. Betrachten sie es als reines Pech für die Eltern, wenn sie so an ihren Kindern hängen? Kinder als Ware, mit der viel Geld verdient werden kann und die man nur aufzusammeln braucht? Als lustiges Spielzeug, das richtig schreit, wenn man es quält? Da rollen sich ja jedem fühlenden Menschen die Fußnägel auf!

Zum Glück aller anderen Kinder kam es hier nicht zu weiteren Verbrechen. Aber ich möchte auf der anderen Seite gar nicht genau wissen, wie viele Kinder in diesem Moment tatsächlich in so einem Martyrium leben – ausgenutzt aus kalter Profitgier, bis sie aufgebraucht sind und weggeschmissen werden. Nicht nur in Fernost, auch in Deutschland – Pascal könnte es uns erzählen, wenn er noch lebte.

Gefühle

Ich habe zwar keine eigenen Kinder, bin aber mit vielen Kindern befreundet. Würde einem meiner jungen Freunde so etwas geschehen: ich glaube, ich würde ausrasten. Auf diesem Hintergrund kann ich mir unmöglich vorstellen, was jetzt wieder in den Eltern von Tom und Sonja vorgehen muss, deren Kinder so grauenhaft ermordet wurden, oder in anderen Eltern, die Ähnliches erleben mussten – ihre Kinder, die ihnen lieber waren als ihr eigenes Leben.

Was das überhaupt bedeutet, lässt sich nicht in Worten ausdrücken: in Jahren gewachsene Beziehungen, entstandenes Vertrauen, nicht zu fassende Mengen an investierter Zeit und Liebe, geteiltes Leid und geteilte Freude, Zukunftspläne und Hoffnungen – alles in wenigen Stunden zerstört, zertreten, weil zwei Männer ihren Spaß daran hatten.

Was in Tom und Sonja in ihren letzten Stunden und Minuten vorgegangen sein muss – nein, es gibt Dinge, die möchte ich mir gar nicht vorstellen.

Wozu?

Es hat keinen Sinn, was da geschehen ist, und ich möchte dort, wo kein Sinn ist, auch keinen hineindichten. Nur ein einziger kleiner Lichtstrahl fällt in meine dunklen Gefühle: Vielleicht wird das, was geschehen ist, andere Leute, die von ähnlichen Taten phantasieren oder sogar welche planen, davon abhalten, dies in die Tat umzusetzen, wenn sie hautnah mitbekommen, wie schrecklich das alles für so viele Betroffene ist.

Die beiden Angeklagten hatten offenbar vor, einen Kindersexring zu gründen. Nach dem zu urteilen, wozu die beiden fähig waren, hätte das wohl bedeutet, dass sie ohne die geringste Gefühlsregung regelmäßig nach Bedarf oder Gutdünken Kinder gefangen und bis zu deren Zugrundegehen erbarmungslos als Sexspielzeug „vermietet“ und ausgebeutet hätten! Unvorstellbar? Schielen wir mal nach Saarbrücken. Oder von Eschweiler aus über die belgische Grenze. Ein Glück, dass es wenigstens dazu nicht mehr gekommen ist.

So gesehen hat der Tod von Tom und Sonja ihnen vielleicht viel Schlimmeres erspart und vielen anderen Kindern Leben und/oder Kindheit gerettet – ein schwacher Trost, aber für mich der einzige.

Und unsere Kinder?

Eine Sicherheit gegen solche Taten gibt es in einem freien Land nicht, solange wir unsere Kinder nicht in Schutzhaft zu Hause halten wollen. Wir können ihnen nur einschärfen: Haltet fünf Meter Sicherheitsabstand zu Erwachsenen, die ihr nicht kennt und die sich euch nähern, vor allem dann, wenn ihr allein seid. Und sobald euch etwas spanisch vorkommt, nehmt die Beine in die Hand und rennt wie die Feuerwehr an den nächsten Ort, wo ihr euch sicher fühlt. Ihr seid flinker als sie, das ist euer einziger Vorteil.

Kinder haben oft einen feinen Instinkt für Gefahr. Auch die Nachbarn der Eschweiler Kindermörder haben geäußert, dass ihre Kinder immer eine unerklärliche Angst vor den beiden Männern gehabt haben.

Und wo war Gott?

Die Frage wird kommen, und sie ist berechtigt. Ich spreche sie hier an, weil ich sie mir selbst auch stelle. Und ich kann es keinem übel nehmen, wenn er angesichts solch scheußlicher Verbrechen den Glauben an Gott verliert.

Bedenklich finde ich es nur, wenn man Gott alles Schlimme, was passiert, anlastet, ohne ihm auf der anderen Seite für das Gute, das passiert, oder das Schlimme, das verhindert wird, zu danken. Das ist inkonsequent. Gott ist nicht der Weltpolizist. Er ist nicht dazu da, Schlimmes zu verhindern, wenn er das auch oft tut. Vor allem ist er nicht dafür da, uns ein sorgenfreies Leben zu garantieren.

Nein, eine Antwort auf die Frage, warum Gott die Kinder nicht beschützt hat, habe ich nicht. Ich hätte sie auch gern. Ich bin mir aber sicher, dass er mit ihnen geweint hat und jetzt mit den Eltern weint. Und ich weiß, dass er das Blut der beiden Kinder von ihren Mördern fordern wird; ein schwacher Trost, der sich auch nur Leuten erschließt, die daran glauben, dass Gott einmal über alle Menschen Gericht halten wird.

Es ganz begreifen zu wollen ist meiner Meinung nach nicht möglich. Auch die biblische Geschichte von Hiob, dem grundlos Leidenden, gipfelt in der Erkenntnis, dass Gott uns in diesem Leben nicht alle Antworten gibt, aber andererseits auch in schweren Zeiten bei uns ist und uns hindurchhelfen will.

Und das ist das, was ich von hier aus den Eltern und Freunden von Tom und Sonja von ganzem Herzen wünsche: Gottes Beistand in der schweren Zeit. Und ich bete für euch, dass ihr das durchsteht und Kraft zum Weiterleben findet. Ich weiß nicht, ob ich darüber hinaus noch etwas tun kann, damit das kein salbungsvolles Gewäsch bleibt, aber zumindest das kann ich tun.

Nachtrag, nach der Urteilsverkündung

Akte zu – und dann?

Zweimal lebenslänglich, mit besonderer Schwere der Schuld – nur das härteste Urteil, das unser Rechtssystem fällen kann, kann einer solchen Tat wie dem Doppelmord an Tom und Sonja entsprechen. Da ist der Ruf nach der Todesstrafe verständlich, aber was für eine Strafe wäre denn ein schneller Tod? Überhaupt keine. Die Verurteilten haben doch nichts mehr zu verlieren.

Leider werden durch das Urteil weder die Kinder wieder lebendig noch hilft es den Eltern, das unfassbare Leid zu tragen. Ungelöst bleibt das Rätsel, wie Menschen so gefühllos sein können, dass sie in ihrem Hass auf Kinder, oder ihrer sexuellen Gier, keine Grenzen mehr kennen.

Ich hoffe nur mit dem Richter Gerd Nohl, dass die Eltern nun endlich in Ruhe trauern und ein neues Leben finden können, nachdem ihre Familie so herz- und grundlos in Trümmer geschlagen wurde.

Und ich hoffe noch etwas: dass allen Menschen (und sicher gibt es viele davon), die in ähnlicher Weise über sexuelle Gewalt an Kindern phantasieren, der Unterschied zwischen Phantasie und Realität so gnadenlos deutlich wird, dass uns weitere Schrecklichkeiten dieser Art erspart bleiben. Mögen die Gedanken frei sein: die Kinder sind es jedenfalls auch!

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