Alfred Wainwright (1907–1991) war bestimmt nicht der erste, der auf die Idee kam. Und bestimmt auch nicht der erste, der es tat. Schrullig, wie die Engländer nun mal sind, gab es bestimmt schon einige, die nur so zum Spaß versucht hatten, England auf einer möglichst geraden Linie (einer beeline) von einer Küste zur anderen zu durchqueren. Zu Fuß.
Aber er war wahrscheinlich der erste, der eine solche Tour bis ins letzte Detail ausarbeitete und ein Buch mit einer Streckenbeschreibung veröffentlichte (1972) – womit er möglichst viele Leute zum Nachwandern der Strecke einladen und ihnen gleichzeitig die Sinne für die Schönheit der nordenglischen Landschaft(en) öffnen wollte.
Was mich angeht, so ist ihm beides bestens gelungen.
Wainwright lebte in Kendal, Cumbria, am Rande der Cumbrian Mountains, besser bekannt als Lake District, einer Region mit verblüffend alpiner Landschaft und Vegetation, obwohl die Höhenangaben eigentlich nur dann alpin aussehen, wenn man sie in Fuß vornimmt: der höchste Berg dieses Gebiets, der Scafell Pike, erreicht zwar imposante 3 210 Fuß, aber wenn man das umrechnet, ist der Schwarzwald, ein reines Mittelgebirge, doch um einiges höher.
Die beeline Wainwrights beginnt am Lake District und trifft 125 Meilen weiter östlich (und ein paar Meilen südlich) in Robin Hood’s Bay auf die Nordsee. „Geballte Zivilisation“ wird dabei bewusst vermieden; die einzige wirkliche Stadt auf dem Weg ist Richmond, und auch die ist noch gemütlich. Die Einwohner von Kirkby Stephen wären auch noch glücklich, wenn wir ihre Heimat als Stadt bezeichnen würden. Aber ansonsten geht’s nur über freies Land und durch, sagen wir mal, überschaubare Siedlungsformen.
Und nebenbei durch drei Nationalparks.
Der reale Weg ist 190 Meilen (304 km) lang, da es auch in England nicht ohne Weiteres möglich ist, durch Häuser zu laufen oder Flüsse zu überspringen. Oder – das wäre das Schlimmste – unberechtigt über privaten Grund und Boden zu laufen, und sei es auch nur eine Viehweide. Wer so etwas macht, ist ein trespasser (ein Eindringling in Privatbesitz, was in England ungefähr so schlimm ist wie in Deutschland das Berühren eines fremden Autos) und kann mit drakonischen Maßnahmen von Seiten des Eigentümers rechnen.
Und damit kommen wir zu einer Eigentümlichkeit des England-Wanderns: Da in England so ziemlich jeder Quadratmeter in Privatbesitz ist, dürfte sich ein Wanderer nur auf den Fahrstraßen bewegen, wenn man nicht (teilweise schon im Mittelalter) kreuz und quer durch die Landschaft öffentliche Wegerechte festgelegt hätte, public rights of way, die jeder benutzen darf. Diese Wegerechte können durchaus einmal quer über die erwähnten Viehweiden führen (sie tun das sogar sehr gern), aber dabei ist zu beachten, dass das Wegerecht nicht etwa flächig für die gesamte Weide besteht, sondern nur entlang einer gedachten Linie verläuft (wenn also zwei Wanderer nebeneinander gehen, macht sich mindestens einer von ihnen des trespassing schuldig, aber so eng wird das niemand sehen wollen).
Diese Wegerechte werden wieder in footpaths und bridleways unterteilt. Erstere darf man, wie der Name nahelegt, nur zu Fuß benutzen; letztere (die „Zügelwege“) sind ursprünglich Reitwege, aber Fahrräder sind darauf auch erlaubt.
Und schon wissen wir, warum englische Karten so unglaublich detailliert sind. Oft genug kann man sich nämlich nur anhand von Mauerecken und Wasserläufen orientieren, wenn der Verlauf des right of way zufällig zugewachsen und daher in realiter überhaupt nicht erkennbar ist. Hier ein Ausschnitt aus der Outdoor Leisure Map 1:25 000.
Ach ja, und gewöhn dich bei der Gelegenheit schon mal gleich an die englischen Maßeinheiten, denn obwohl
...werden wir unterwegs natürlich traditionsbewusst mit „imperial units“, also „Reichseinheiten“, arbeiten:
Einzahl | Mehrzahl | Abkürzung | deutsch | metrisch | Zusammenhang |
---|---|---|---|---|---|
inch | inches | in | Zoll | 2,54 cm | – |
foot | feet | ft | Fuß | 30,48 cm | 12 inches |
yard | yards | yd, yds | Schritt | 91,44 cm | 3 feet* |
mile | miles | ml | Meile | 1 609 m | 1 760 yards |
*) Die alten Römer kannten noch die Einheit „Doppelschritt“ (passus), und so erklärt sich der geheimnisvolle Satz „Man braucht sechs Fuß, um zu tun einen Schritt“ aus „Asterix bei den Briten“.
Kein ernsthafter England-Freund wird so steinzeitliche Angaben wie „nach Richmond 2¾ Meilen“ durch Umrechnen in metrische Einheiten entweihen!
Das soll als Einführung ins England-Wandern reichen, alles andere sehen wir noch. Und jetzt auf zum Startpunkt des Coast to Coast Walk (auch einfach C2C genannt, in England liebt man solche Abkürzungen): in das kleine Städtchen St Bees an der Irischen See.
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Text und Fotos ©Volker Gringmuth 1996–2015